Die Corona-Pandemie hat gerade in der Gesundheitsbranche für zahlreiche Veränderungen gesorgt. Noch bis zum 31. Dezember 2021 galten Sonderregelungen des Gemeinsamen Bundesausschusses (GBA), wonach eine telefonische Krankschreibung bei leichten Atemwegserkrankungen für bis zu sieben Tage telefonisch möglich war und auf demselben Weg um weitere sieben Kalendertage verlängert werden konnte. Der kontaktierte Arzt konnte hiernach die Arbeitsunfähigkeits-Bescheinigung (AU) ausstellen, die der Patient dem Arbeitgeber vorlegt. Für in Arztpraxen bekannte Versicherte bestand daneben auch die Möglichkeit der Krankschreibung per Videosprechstunde, sofern die spezifische Erkrankung dies zuließ und es sich nicht um eine Folgekrankschreibung handelte.
Aus Sicht der Bundesregierung hat sich die telefonische Krankschreibung bewährt, Arztpraxen wurden entlastet. Dies hat zur Folge, dass es aufgrund mehrerer Beschlüsse des GBA, zuletzt vom 7. Dezember 2023, Versicherten nunmehr möglich, sich bis zu sieben Tage im Rahmen einer Videosprechstunde oder bei Erkrankungen, die keine schwere Symptomatik vorweisen, nach telefonischer Anamnese für bis zu fünf Tage (erst-) krankschreiben zu lassen. Sind die Versicherten dem Vertragsarzt nicht bekannt (bei einer Gemeinschaftspraxis genügt die Kenntnis eines der Vertragsärzte), besteht die Möglichkeit der (Erst-) Krankschreibung lediglich für bis zu drei Tage.
Eine telefonische Verlängerung (Folgekrankschreibung) ist grundsätzlich nicht möglich; nur ausnahmsweise, wenn die Erstkrankschreibung im Rahmen eines Praxisbesuchs ausgestellt wurde. Gleiches gilt für Folgekrankschreibungen via Videosprechstunde.
Die aufgezeigten Möglichkeiten der telemedizinischen Krankschreibung gelten seit dem 18. Dezember 2023 überdies auch für die Krankschreibung versicherter Kinder (Kindkrankschreibung). Diese ist unter anderem Voraussetzung für die Gewährung von Kinderkrankengeld gemäß
sowie für den Anspruch auf Freistellung gegen den Arbeitgeber.
Bei Krankschreibung ohne jeglichen Arztkontakt:
Beweiskraft beeinträchtigt
Hiervon unabhängig stellt sich die Frage, inwieweit Arbeitgeber verpflichtet sind, die im elektronischen Wege ausgestellten AU-Bescheinigungen als hinreichenden Nachweis für das tatsächliche Vorliegen der Arbeitsunfähigkeit anzuerkennen. Die Beschlüsse des GBA sind jedenfalls für den Arbeitnehmer* und den Arbeitgeber nicht bindend; hier ist das individuelle Vertragsverhältnis zwischen beiden Parteien maßgeblich.
Auch unabhängig von den Besonderheiten während der pandemischen Lage stellt sich die Frage für Arbeitgeber, welche Hürden regelmäßig an den Nachweis zur Krankschreibung zu stellen sind.
Bereits vor dem Höhepunkt der Pandemie war nach Ansicht der Rechtsprechung die Beweiskraft einer AU-Bescheinigung ohne jeglichen Arztkontakt erschüttert (vgl. LG Hamburg, Urteil v. 3. September 2019 – 406 HKO 56/29, in der Berufungsinstanz bestätigt: OLG Hamburg, Urteil v. 5. November 2020 – 5 U 175/19). Dies hatte für den betroffenen Arbeitnehmer zur Folge, dass die Fehlzeiten als nicht ausreichend entschuldigt anzusehen waren und somit auch der Anspruch auf Entgeltfortzahlung leerlief.
Grundsätzlich kommt der AU-Bescheinigung ein hoher Beweiswert zugute. Prozessual betrachtet spricht ein Anscheinsbeweis zugunsten des Arbeitnehmers dafür, dass mit der Vorlage der Bescheinigung die krankheitsbedingte Arbeitsunfähigkeit vermutet wird (ständige Rechtsprechung vgl. beispielhaft BAG, Urteil v. 26. Oktober 2016 – 5 AZR 167/16). Der Arbeitgeber hat dann gegebenenfalls die Möglichkeit, den Beweiswert zu erschüttern, indem er konkrete Tatsachen vorträgt, die einen ernsthaften Zweifel an der Arbeitsunfähigkeit des Arbeitnehmers begründen. Dies soll nach der dargestellten Rechtsprechung jedenfalls der Fall sein, sofern die Arbeitsunfähigkeit ohne jegliche ärztliche Untersuchung festgestellt wurde. Andere anerkannte Fällen sind beispielhaft regelmäßig die Rückdatierung von AU-Bescheinigungen (vgl. LAG Rheinland-Pfalz, Urteil v. 13. Januar 2015 – 8 Sa 373/14), die Ausübung mit einer Erkrankung unvereinbare Nebentätigkeiten (vgl. LAG Hamm, Urteil v. 8. Oktober 1970 – 4 Sa 534/70) oder im Falle einer Ankündigung der Erkrankung durch den Arbeitnehmer selbst (vgl. BAG, Urteil v. 4. Oktober 1989 – 5 AZR 326/77). Es bleibt jedoch wichtig zu betonen, dass an die Erschütterung hohe Anforderungen gestellt werden, da andernfalls bei jeder belastenden Maßnahme durch den Arbeitgeber im Arbeitsalltag und anschließender Erkrankung die AU-Bescheinigung nicht den hinreichenden Nachweis erbringen würde (z.B. bei Erkrankung in zeitlicher Nähe zur Abmahnung, LAG Köln, Urteil v. 25. Juni 2020 – 6 Sa 664/19).
Es besteht daher gerade für Arbeitnehmer in Einzelfällen das Risiko, am Ende ohne den Anspruch auf Entgeltfortzahlung dazustehen. Dies hat auch das Arbeitsgericht Berlin (Urteil v. 1. April 2021 – 42 Ca 16289/20) in einem Fall entschieden, in dem gewerbliche Angebote zur Krankschreibung genutzt wurden. Ein Arbeitnehmer aus Berlin hatte sich mithilfe des Anbieters über WhatsApp die Arbeitsunfähigkeit bescheinigen lassen, ohne dass er Kontakt zu einem Arzt hatte. Der Arbeitnehmer konnte auf der Website aus 12 Grunderkrankungen wählen, mit denen dann nach Eingabe der persönlichen Daten die Arbeitsunfähigkeit durch einen Arzt – im konkreten Fall durch eine Gynäkologin in Hamburg – ohne persönliche Untersuchung bescheinigt wurde. Vor Gericht gab der Arbeitnehmer an, an den betroffenen Tagen an starkem Schnupfen und Kopfschmerzen gelitten und aufgrund der Corona-Pandemie auf einen Arztbesuch verzichtet zu haben.
Im Ergebnis sah das Arbeitsgericht die Beweiskraft der AU-Bescheinigung als erschüttert an, weil es vorliegend keinen Kontakt im Rahmen einer ärztlichen Begutachtung gegeben hatte. Die Corona-Pandemie ändere daran im Grundsatz nichts, auch wenn es Erleichterungen bei der Feststellung der Arbeitsunfähigkeit im gesetzlichen Gesundheitssystem gab. Sofern kein unmittelbarer Kontakt zwischen Arbeitnehmer und Arzt stattfindet, kann sich letztgenannter keine persönliche Überzeugung über den Gesundheitszustand des Arbeitnehmers machen. Insoweit besteht grundsätzlich die Gefahr, dass eine Feststellung der Arbeitsunfähigkeit „ins Blaue hinein“ möglich ist und die Beweiskraft der AU-Bescheinigung erheblich abnimmt. Die Entscheidung des Gerichts ist insofern konsequent und verhindert Missbrauch.
Keine allgemeingültige Aussage zu telemedizinischen Behandlungen getroffen
Letztlich muss jedoch betont werden, dass das Arbeitsgericht Berlin in der dargestellten Entscheidung keine generellen Aussagen zur Zulässigkeit von Telemedizin bei der Feststellung der Arbeitsunfähigkeit getroffen hat. Spätestens seit Corona gibt es zahlreiche Unternehmen auf dem Markt, die eine ärztliche Beratung und Behandlung im Wege der (Video-)Telefonie anbieten. Diese werden mittlerweile von den gesetzlichen Kassen bezahlt und können – soweit erforderlich – auch AU-Bescheinigungen ausstellen. Der wesentliche Unterschied zum geschilderten Fall vor dem Arbeitsgericht Berlin ist jedoch derjenige, dass eine direkte Vorstellung bei einem Arzt mittels (Video-)Telefonie erfolgt und insoweit für den Arzt im Grundsatz die Möglichkeit besteht, sich eine persönliche Überzeugung über den Arbeitnehmer zu verschaffen.
Von der Rechtsprechung noch nicht entschieden bleibt daher die Frage, ob die Feststellung der Arbeitsunfähigkeit via Telemedizin die Beweiskraft der AU-Bescheinigung erschüttert oder inwieweit Einschränkungen zu berücksichtigen sind. So kann sich unter Umständen der langjährige Hausarzt ein deutlich umfassenderes Bild über einen Arbeitnehmer machen als der erstmalige digitale Kontakt mit einem Arzt, der irgendwo im gesamten Bundesgebiet praktiziert. Auch bei den verschiedenen Symptomen und Diagnosen könnte im Einzelfall eine unterschiedliche Bewertung vorzunehmen sein – so vermag beispielsweise die ärztliche Behandlung mittels Telemedizin bei einem Magen-Darm-Infekt mit einem persönlichem Arztbesuch als annähernd gleichwertig, im Falle des Verdachts auf Blutvergiftung dagegen als wesentlich geringwertiger zu bewerten sein.
Nicht zu verwechseln ist die rechtliche Einschätzung mit der Frage der Einführung der elektronischen AU-Bescheinigung. Seit dem 1. Juli 2022 verlangt der Gesetzgeber von allen Vertragsärzten in der gesetzlichen Krankenversicherung, dass entsprechende Bescheinigungen nur noch digital an die Krankenkassen und durch diese dann wiederum an den Arbeitgeber übermittelt werden. Damit wird allerdings lediglich die Übermittlung der AU-Bescheinigung und nicht der grundlegende Ablauf zur Feststellung der Arbeitsunfähigkeit angepasst.
Rechtsprechung des BAG reduziert Missbrauchsmöglichkeit beim Krankfeiern nach Kündigung
In seiner Entscheidung vom 8. September 2021 hatte das Bundesarbeitsgericht die Position des Arbeitgebers gestärkt und zugleich die Grenzen der Beweiskraft einer AU-Bescheinigung aufgezeigt (vgl. BAG, Urteil v. 8. September 2021 – 5 AZR 149/21). In dem konkreten Fall kündigte eine Arbeitnehmerin ihr Arbeitsverhältnis und reichte noch am Tage des Zugangs der Kündigungserklärung bei ihrem Arbeitgeber eine Krankschreibung ein, die zeitlich gesehen auf den Tag genau der Länge der Kündigungsfrist entsprach. Daraufhin verweigerte der Arbeitgeber die Entgeltfortzahlung mit der Begründung, dass aufgrund dieser passgenauen Krankschreibung der Beweiswert der AU-Bescheinigung erschüttert sei. Während die ersten beiden Instanzen der Zahlungsklage der Arbeitnehmerin stattgegeben hatten, hob das BAG diese Entscheidungen (zuletzt LAG Niedersachsen, Urteil v. 13. Oktober 2020 – 10 Sa 619/19) auf.
Der Arbeitgeber konnte vor Gericht erfolgreich den Beweiswert der eingereichten AU-Bescheinigung erschüttern, weil die „passende“ Krankschreibung ernsthafte Zweifel an der Arbeitsunfähigkeit der Arbeitnehmerin erweckte. Da dem Arbeitgeber dies im gegebenen Fall gelang, oblag es wiederum der Arbeitnehmerin ihre Arbeitsunfähigkeit im Rechtsstreit darzulegen und zu beweisen (z.B. durch Zeugenvernehmung des behandelnden Arztes nach entsprechender Schweigepflichtentbindung), was ihr allerdings in dem konkreten Fall nicht gelungen war.
Diese Linie führte das BAG nun mit seinem Urteil vom 13. Dezember 2023 (5 AZR 137/23) fort. Erneut gelang es einem Arbeitgeber, die Beweiskraft der vorgelegten AU-Bescheinigungen zu erschüttern. Der Entscheidung lag ein ähnlicher, jedoch nicht identischer Sachverhalt zugrunde.
Dem Arbeitnehmer war zunächst für fünf Tage seine Arbeitsunfähigkeit attestiert worden. Erst tags darauf erfolgte die arbeitgeberseitige Kündigung. Nach Ablauf der ersten Krankschreibung ließ sich der – nunmehr gekündigte – Arbeitnehmer zweifach folgekrankschreiben. Die beiden Folgekrankschreibungen umfassten zusammen exakt den Zeitraum der Kündigungsfrist und endeten am 31. Mai 2022, einem Dienstag. Am 1. Juni 2022 nahm der Arbeitnehmer eine neue Beschäftigung bei einem neuen Arbeitgeber auf.
Während das BAG die erste AU-Bescheinigung – wie auch die Vorinstanzen – insbesondere mangels zeitlicher Koinzidenz nicht beanstandete, sah es – anders als die Vorinstanzen – den Beweiswert der beiden Folgekrankschreibungen als erschüttert an. Dabei komme es ebenso wenig darauf an, ob es sich um eine arbeitgeber- oder arbeitnehmerseitige Kündigung handele, wie darauf, ob es sich um eine Erst- oder Folgekrankschreibung handele. Ausschlaggebend sei stets eine Einzelfallbetrachtung unter Würdigung der Gesamtumstände.
Konkretisierung zu den Anforderungen einer AU-Bescheinigung wünschenswert
Die gegenwärtige Rechtslage trifft nicht nur den Arbeitgeber – insbesondere für die betroffenen Arbeitnehmer besteht die missliche Situation, dass sie bei Nutzung der gewerblichen Angebote die Erwartung an eine hinreichende AU-Bescheinigung haben, mit denen sie im Ergebnis allerdings nicht den Nachweisanforderungen zum Erhalt der Entgeltfortzahlung genügen. Insoweit ist es aus Gründen des Arbeitnehmerschutzes wünschenswert, wenn der Gesetzgeber zeitnah eine entsprechende Klarstellung vornimmt und die Rechtsunsicherheit somit beseitigt.
* Gemeint sind Beschäftigte jeder Geschlechtsidentität. Lediglich der leichteren Lesbarkeit halber wird künftig bei allen Bezeichnungen nur noch die grammatikalisch männliche Form verwendet.
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